Sonntag, 19. August 2012

Israelisch-amerikanisches Drehbuch: Erst die Zerschlagung Syriens, dann die Zerschlagung des Rests

Mahdi Darius Nazemroaya

Die Entwicklungen in Syrien sind Vorboten dafür, was der gesamten Nahmittelost-Region droht. Regimewechsel ist nicht das einzige Ziel der USA und ihrer Verbündeten in Syrien. In Syrien selbst arbeitet Washington letztlich auf die Zerschlagung der Syrischen Arabischen Republik hin.


Der britische Finanzdienstleister Maplecroft, der sich auf Beratung und Risikobewertung spezialisiert hat, meinte, man erlebe derzeit die Balkanisierung Syriens: »Die Kurden im Norden, die Drusen in den südlichen Bergen, die Alawiten in den Bergregionen der Nordwestküste und die sunnitische Mehrheit im ganzen Rest.«
Auch andere Personen wie der Berater des Weißen Hauses Vali Nasr äußern sich nun zu diesem Thema. Die religiösen und ethnischen Enklaven lassen sich nur schwer in rein geografischer Hinsicht abgrenzen, daher könnte eine Balkanisierung Syriens eine ähnliche Entwicklung wie im Nachbarland Libanon nehmen. Dies hieße, dass Syrien möglicherweise gewaltsam entlang religiöser und ethnischer Verwerfungslinien aufgeteilt würde und mit einem politischen Stillstand konfrontiert wäre, der mit der Lage im Libanon während des dortigen Bürgerkrieges vergleichbar wäre, wobei formal der Staat erhalten bliebe. Eine solche Libanonisierung, sozusagen eine weiche Form der Balkanisierung, fand bereits im Irak mit der Einführung föderaler Strukturen statt.



Die Entwicklungen in der Nahmittelost-Region sowie in Nordafrika haben auch der Entstehung von Massenbewegungen gegen lokale Machthaber wie in Bahrain, Jordanien, Marokko und Saudi-Arabien Raum gegeben, aber zugleich wirkt hier ein bösartiges Drehbuch, das auf den israelischen Yinon-Plan und dessen Nachfolger zurückgeht. Dieser Yinon-Plan und ähnliche Szenarien forcieren einen künstlichen innermuslimischen Krieg zwischen Schiiten und Sunniten, der letztlich zu Aufspaltungen und Aufteilung entlang religiöser und ethnischer Verhältnisse – in der arabischen Sprache gibt es dafür den Ausdruck »fitna«und anhaltenden Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen – Christen und Muslimen, Arabern und Berbern, Arabern und Iranern, Arabern und Türken sowie Iranern und Türken – führen soll.

Dieser Prozess soll religiösen Hass, ethnische Spaltungen, Rassismus und Religionskriege schüren. In allen diesen Ländern, die die USA und ihre Verbündeten derzeit destabilisieren, existieren natürliche Bruchlinien, werden dann in einem Land noch zusätzlich ethnische und religiöse Abneigungen und Feindseligkeiten zwischen den Stämmen angeheizt, kann dieser Prozess leicht auch auf andere Staaten übergreifen. Die Konflikte in Libyen haben bereits den Niger und den Tschad erreicht, und die Probleme in Syrien sind derzeit dabei, sich in die Türkei und in den Libanon auszubreiten.

In Ägypten haben die revolutionären und konterrevolutionären Entwicklungen dazu geführt, dass diese arabische Großmacht weitgehend mit ihrer Innenpolitik beschäftigt ist. Und während sich Ägypten innenpolitischen Turbulenzen gegenübersieht, spielen die USA das Militär des Landes und die Muslimbrüderschaft gegeneinander aus. Und zuvor sorgten die Aufstände im Sudan dafür, dass dieses Land auch in gesamtstaatlicher Hinsicht balkanisiert wurde. Tel Aviv und Washington war es gelungen, die ethnischen und religiösen Identitäten politisch so zu manipulieren, dass es tatsächlich zur Abspaltung des Südsudan kam.

Libyen wiederum wird von unterschiedlichen Gruppierungen beherrscht, die das Land teilen und sich gegenseitig in Schach halten. Auch im Irak bahnt sich, wie bereits angesprochen, mit der Bildung der  Regionalregierung Kurdistan (RRK) mit ausländischer Unterstützung, insbesondere der Hilfestellung der USA, Westeuropas, Israels und der Türkei eine Libanonisierung an. Die RRK handelt immer mehr so, als handele es sich beim Nordirak oder beim irakischen Kurdistan bereits um eine vom Restirak getrennte eigenständige staatliche Einheit.

Es lohnt sich, hier einmal die Ansicht des Präsidenten des Jerusalem Center for Public Affairs, Dore Gold, zu zitieren, der auch zu den Beratern des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gehört: »Die Ereignisse in Syrien zeigen, das der Mittlere Osten dabei ist, auseinander zu brechen: Eine neue Art von Chaos ersetzt das bisherige.« Natürlich spiegelt sich hier teilweise auch das Wunschdenken der israelischen Politiker wider, die ein Interesse daran haben, dass diese Entwicklung so eintritt. Zu Beginn der Krise in Syrien wurde diese israelische Position ignoriert, aber heute ist offensichtlich, dass Israel ein starkes Interesse daran hat, dass Syrien in viele kleine Teile zersplittert und im Zustand eines anhaltenden Bürgerkriegs gefangen bleibt. Genau diese Zielrichtung hatten der Yinon-Plan und dessen Nachfolger als strategische Ziele Israels gegenüber Syrien und dem Libanon definiert.

Der kurdische Nationalismus
Ähnlich wie der Irak wird Syrien allgemein als strategisch wichtiger Druckpunkt im Mittleren Osten angesehen. Turbulenzen oder Desintegrationsprozesse in diesen beiden sensiblen Gebieten können eine schwere, sich selbst verstärkende Krise in der Region als Ganzer auslösen. Als sich die Lage in Syrien immer weiter zuspitzte, gebärdete sich der alles andere als stabile Irak ebenfalls wie ein geopolitischer, kurz vor dem Ausbruch stehender Vulkan.

Wenn jemand noch daran zweifelt, dass die USA bewusst Öl ins Feuer gießen, um eine allgemeine Zusammenbruchskrise in der Nahmittelost-Region auszulösen, oder dass die Ereignisse in Syrien langsam auf die Region auszustrahlen beginnen, muss nur einen Blick auf die Kurdenregion werfen. Nationalistische kurdische Kämpfer haben begonnen, sich in Syrien und in der Türkei zu mobilisieren und haben bereits türkische Truppen angegriffen. Die Regionalregierung Kurdistan hat weitreichende Schritte eingeleitet, die ihre Unabhängigkeit vom Irak deutlich machen.

Im Irak selbst ist die RRK praktisch ein Staat im Staate mit einem eigenen Parlament, einer eigenen Flagge und Armee, eigenen Visaregelungen, Streitkräften, einer eigenen Polizei und eigenen Gesetzen. Unter Verletzung irakischer Gesetze hat die RRK sich bereits eigenständig mit Waffen versorgt und in eigenem Namen Erdölgeschäfte mit ausländischen Regierungen und anderen Einrichtungen abgeschlossen, ohne die Regierung in Bagdad darüber überhaupt in Kenntnis zu setzen. Darüber hinaus hinderte die RRK sogar irakische Truppen daran, sich an der Nordgrenze des Irak zu Syrien zu positionieren, um dort dem Waffenschmuggel und der Gesetzlosigkeit ein Ende zu machen.

Die Türkei unterhält enge Beziehungen zur RRK und hat diese in ihrem Verhalten ermutigt. Sie behandelt die RRK wie die Regierung eines souveränen Staates und unterhält diplomatische Kontakte, ebenfalls ohne die irakische Regierung darüber zu informieren. Führende Vertreter der RRK gestatten dem israelischen Geheimdienst Mossad sogar, ihr Land als Operationsbasis gegen Syrien und den Iran zu benutzen.

Hier tritt ein bizarrer Zwiespalt zutage: Einerseits warnt die Türkei, sie werde militärisch gegen die kurdischen Separatisten in Syrien vorgehen, andererseits unterstützt sie die separatistischen Tendenzen innerhalb der RRK und die Spaltung Syriens. Dies wird nicht nur zusätzliche Spannungen zwischen den Regierungen der Türkei und des Iraks hervorrufen, sondern auch Folgen für die Türkei nach sich ziehen. Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) hat ebenfalls eine Mobilisierung begonnen. Sie behauptet, bereits den Bezirk Şemdinli (Şemzînan) in der türkischen Provinz Hakkâri zu kontrollieren, und auch im Südosten der Türkei sind schon Kämpfe ausgebrochen.

Die Opferzahlen haben bereits zugenommen, seit türkische Truppen und Sicherheitskräfte angegriffen wurden. In der Provinz Hakkâri wurde türkischen Medienberichten zufolge das Kriegsrecht ausgerufen. Die Türkei muss sich also im eigenen Lande  gegen regierungsfeindliche Kräfte zur Wehr setzen und scheint Schwierigkeiten zu haben, ihr eigenes Land zu regieren. Ein türkischer Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei wurde schon von der PKK entführt. Der türkische Ministerpräsident Erdoğan versuchte, Syrien für den Ausbruch von Kämpfen in den Kurdengebieten der Türkei verantwortlich zu machen, aber er verschweigt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Gewalt in der Türkei eine direkte Folge der türkischen Einmischung in Syrien ist. Die Waffen, die Erdoğan nach Syrien bringen lässt, werden schließlich auch ihren Weg zurück in die Türkei finden – wenn dies nicht bereits der Fall ist –, wo sie dann von regierungsfeindlichen Kräften eingesetzt werden könnten.

Will Tel Aviv im Libanon eine zweite levantinische Front eröffnen?
Der Anschlag auf den israelischen Reisebus in Bulgarien lässt, gelinde gesagt, Schlimmes befürchten. Im Zusammenhang mit diesem Anschlag fällt auf, wie schnell Israel die libanesische Hisbollah und den Iran verantwortlich machte. Nicht einmal eine Stunde war seit dem Anschlag vergangen, und es hatte auch noch keine offizielle Untersuchung begonnen.

Bemerkenswert ist auch, dass nur eine Woche zuvor Regierungsvertreter in Tel Aviv mit einem Angriff auf den Libanon drohten. In diesem dritten israelisch-libanesischen Krieg würden sie den Libanon dem Erdboden gleichmachen, prahlten sie. Brigadegeneral Hertzi Halevy, der Kommandeur der 91. Division in Tel Aviv, gehörte zu den Wortführern. Seine Äußerungen fielen knapp eine Woche vor den sechsten Jahrestag des Sieges der Hisbollah über Israel im Krieg zwischen Israel und dem Libanon im Jahr 2006. Halevy und andere führende Israelis haben wiederholt damit gedroht, den Libanon mit einem verheerenden Angriff »plattzumachen«.

Die Verbündeten Syriens werden von verschiedensten Seiten unter Druck gesetzt. Der Iran, Russland, der Libanon, der Irak und die Palästinenser werden massiv bedrängt, ihre syrischen Verbündeten fallen zu lassen. Die israelischen Drohungen sollen den psychologischen Druck auf den Libanon und die Hisbollah weiter erhöhen, um den psychologischen, medialen, wirtschaftlichen, diplomatischen, geheimdienstlichen und politischen Belagerungsring um Syrien auf auch den Libanon auszudehnen. Die amerikanischen Sanktionen gegen Syrien beziehen bereits den Iran und die Hisbollah mit ein, und  libanesische Banken waren vor kurzem Cyberangriffen und Druck von Washington und seinen Verbündeten ausgesetzt.

Ein Ausblick: Willkommen im amerikanischen Instabilitätsbogen?
Die von den USA vorangetriebene Belagerung Syriens ist Teil der Versuche Amerikas,  Eurasien aufzuspalten und seine Vormachtstellung als Supermacht beizubehalten. Washington kennt weder seinen Freunden noch seinen Feinden gegenüber Gnade. Länder wie die Türkei und Saudi-Arabien werden möglicherweise als Kanonenfutter verheizt. Amerikanische Strategen warnen, die Großregion, die sich von Nordafrika und die Nahmittelost-Region bis zum Kaukasus, nach Zentralasien und Indien erstreckt, werde sich ähnlich wie Brzezińskis »eurasischer Balkan« in ein Schwarzes Loch endloser Kriege verwandeln.

Die Araber, der Iran und die Türkei stehen sich in Erwartung eines größeren Konflikts gegenüber, weil die Amerikaner dabei sind, ihren Status als alleinige Supermacht einzubüßen. Von diesem Supermachtstatus ist Washington längst nur noch seine Militärmacht geblieben. Auch die Sowjetunion verfügte am Ende ihrer relativ kurzen Existenz nur noch über militärische Macht und durchlebte vor ihrem Zusammenbruch soziale Unruhen und wirtschaftlichen Niedergang. Die Lage in den USA unterscheidet sich nicht grundlegend, vielleicht ist sie sogar schlimmer. Die USA sind am Ende. Die sozialen Unterschiede werden immer größer und auch die Spannungen zwischen den ethnischen Bevölkerungsgruppen nehmen zu, während der internationale Einfluss ständig schwindet. Aber die amerikanischen Eliten sind entschlossen, sich dem scheinbar unvermeidlichen Verlust des amerikanischen Supermachtstatus und ihres Empire entgegenzustemmen.

Eurasien in Flammen aufgehen zu lassen und überall dort Aufruhr zu schüren, scheint das Rezept Washingtons zu sein, mit dem der eigene Untergang verhindert werden soll. Die USA wollen in der Region von Marokko und dem Mittelmeer bis zu den Westgrenzen Chinas offenbar einen Flächenbrand entzünden. Mit der Destabilisierung von drei wichtigen Regionen – Zentralasien, dem Mittleren Osten und Nordafrika – hat dieser Prozess bereits eingesetzt. Aber die ersten Schritte, die die USA und ihre Verbündeten in der NATO und in Arabien in dieser Richtung unternahmen, richteten sich nicht gegen Syrien.

In der Nahmittelost-Region begann dieser Prozess mit der Belagerung des Iraks, die dann letztlich der angloamerikanischen Invasion des Landes im Jahre 2003 den Boden bereitete. In Zentralasien wurde diese Politik mit der Destabilisierung Afghanistans während des Kalten Krieges und einer amerikanischen Unterstützung eingeleitet, die dafür sorgte, dass zwischen den einzelnen Gruppen des Landes Kämpfe ausbrachen. Aus diesen Auseinandersetzungen gingen auch die Taliban hervor. Die Anschläge vom 11. September 2001 lieferten den USA und ihren NATO-Verbündeten dann den geeigneten Vorwand für eine Invasion dieses Landes. Und in Nordafrika gelang es den USA und Israel, eine Spaltung des Landes herbeizuführen, nachdem dort jahrelang Spannungen geschürt und verdeckte Operationen durchgeführt worden waren.

In den drei erwähnten Großregionen vollzieht sich gegenwärtig vor unseren Augen die zweite Welle der Destabilisierung. In Zentralasien hat die NATO den Krieg in Afghanistan bis nach Pakistan ausgeweitet. Heute wird der Kriegsschauplatz mit dem Ausdruck »AfPak« bezeichnet, womit die beiden Länder [aus amerikanischer Sicht offenbar] einen einheitlichen Kriegsraum bilden. In Nordafrika wurde Libyen 2011 von der NATO angegriffen, und die [libysche] Dschamahirija [»Volksmassenrepublik«] wurde durch die unterschiedlichen Volksgruppen aufgeteilt. Im Mittleren Osten richtet sich die zweite Welle der Destabilisierung sozusagen als Fortsetzung der Ereignisse im Irak nun gegen die Syrische Arabische Republik.

Washington scheint von dem folgenden Szenario zu träumen: In Syrien, der Türkei, dem Irak und dem Iran kommt es zu einem Aufstand der Kurden; der Irak, der Libanon, Syrien, die Türkei und der Jemen zerfleischen sich in religiös motivierten Kriegen; Algerien, Ägypten, Libyen, Pakistan und der Sudan werden durch Instabilität und Kämpfe zermürbt; Berber und Araber bekämpfen sich gegenseitig in ganz Nordafrika; Zentralasien wird von Unsicherheit und politischer Instabilität heimgesucht; ein Krieg im Südkaukasus verzehrt Georgien, Armenien und die Republik Aserbaidschan; unter den Balkaren, Tschetschenen, Tscherkessen, Dagestanis, Inguscheten und anderen Kaukasusvölkern kommt es im Nordkaukasus zu Aufständen gegen die Russen; der Persische Golf wird zu einer Zone der Instabilität, und die Beziehungen Russlands zur Europäischen Union und der Türkei befinden sich auf einem Tiefpunkt. Ein derartiger Weltenbrand  wird von Washington gegenwärtig stetig geschürt und aufrechterhalten.

Aber alle diese Entwicklungen bedeuten zugleich, dass einige der wichtigsten Energietransport- und Versorgungsrouten gestört und damit die massiv von Energieimporten abhängigen Volkswirtschaften Chinas, der größeren europäischen Mächte, Indiens, Japans und Südkoreas schwer beeinträchtigt werden könnten. Dies könnte dazu führen, dass die Politik der Europäischen Union gezwungenermaßen noch militärischer ausgerichtet wird, weil man verzweifelt versucht, ihre Volkswirtschaft zu retten.

Ein solches Szenario birgt vor allem für die Energielieferanten wie Russland oder die OPEC große Gefahren, wären sie doch möglicherweise gezwungen, sich entweder für China oder die EU zu entscheiden, sollte es zu Rohstoff- und Energieverknappungen kommen. Ein Krieg um Rohstoffe – wie der Erste Weltkrieg – könnte als Konsequenz mit verheerenden Folgen für einen großen Teil Afrikas und praktisch alle Industrieregionen Eurasiens ausbrechen.

Und während sich diese Katastrophen ereignen, könnten die USA sich all dies aus sicherer Entfernung anschauen, wie sie es schon im Ersten und Zweiten Weltkrieg taten, bevor sie dann in letzter Minute eingriffen, um die Scherben aufzusammeln und damit noch wirtschaftlichen Nutzen aus diesem verheerenden Krieg zögen.

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