Montag, 29. Juni 2015

Das Ende der Demokratie in Europa: Volksabstimmung? Banken-Schließung!


Deutsche Wirtschafts Nachrichten | Veröffentlicht: 29.06.15 09:18 Uhr | 56 Kommentare

Ein Regierungschef wagt es, das Volk zu befragen. Am nächsten Tag gibt es für die Griechen kein Geld mehr, keine Banken. Die Versklavung eines ganzen Volks durch die nackte Angst - das ist die neue Währung in Europa. Der Dämon des Totalitären erhebt sich und beendet die demokratischen Freiheiten mit der Diktatur des Geldautomaten. Diese wird zuerst die Griechen verschlingen, und dann den Rest.



Alexis Tsipras und die Abschaffung der Demokratie in Rekordzeit: Am Samstag wird das Referendum beschlossen, am Sonntag kommt die Anweisung, dass die Banken schließen müssen. (Foto: dpa)

Es ist eine ungeheure Sequenz. Sie kam so schnell, dass man übersehen könnte, was eigentlich geschehen ist. Seit Jahren schleppt sich die Euro-Rettung in Griechenland von einem Jahr zum andern. Es ist immer dasselbe Spiel: Kredite werden vergeben, Zinsen genommen, Kredite umgewälzt, Zinseszinsen und immer weiter. Das griechische Volk bekommt die harte Knute der Austerität. Immer höhere Steuern, immer mehr Privatisierungen, immer mehr Sozialabbau. Die Zahl der Selbstmorde ist um 35 Prozent gestiegen seit 2010, wie der britische Autor Timothy Garton Ash für Kathimerini ermittelt hat. Diese Zahlen haben in den Verhandlungen mit den Gläubigern keine Rolle gespielt, schreibt die Zeitung. Doch die Medizin, die die Troika den Griechen seit nunmehr fünf Jahren verabreicht hat, sie ist zum Gift geworden, zum tödlichen Gift.



Die Fakten sind sonnenklar. Jeder, der sie wissen will, kann sie erfahren. Und doch läuft in Deutschland ein beispiellose Hetzkampagne gegen „die Griechen“. Sie sind faul, korrupt, unfähig, linksradikal, kommunistisch.

Das Spiel geht nun seit Jahren so. Und vermutlich wäre es noch Jahre weitergegangen.

Und doch ist es nun zum lauten Knall gekommen.

Das System ist kollabiert, weil Alexis Tsipras etwas getan hat, wofür die EU einmal erfunden wurde: Er hat ein Referendum angekündigt. Er will das griechische Volk über eine Schicksalsfrage entscheiden lassen. Das ist nicht nur sein Recht, es ist seine Pflicht. Es ist das Recht des Volkes, über sein Schicksal zu bestimmen. Das ist das Wesen der Demokratie, der Markenkern der EU. Das ist der Unterschied zu den Diktaturen in dieser Welt, über die die EU-Apologeten sich so gerne und so lautstark erheben.

Sie schicken ihre politischen Stiftungen in die Ukraine, nach Mazedonien, nach Georgien, Albanien, in den Kosovo. Um den Völkern zu zeigen, wie Demokratie geht.

Und dann entscheidet sich ein Volk in der EU, Demokratie zu spielen – und was geschieht? Das ganze Wochenende kamen im Minutentakt Meldungen von gewählten Volksvertretern, die sich „enttäuscht“, „verärgert“, erzürnt, erbost, beleidigt, „verarscht“, „hintergangen“ und noch vieles mehr fühlen – doch was ist der Grund des Zorns? Die Ausübung der Demokratie in einem Mitgliedsland der EU wird zum Stein des Anstoßes für die professionelle Politiker-Kaste, die nur wegen dieser gottverdammten Demokratie überhaupt dort sind, wo sie über das Schicksal der Völker entscheiden können und dafür gute Diäten, Büros, Mitarbeiter, Dienstwagen, Vergünstigungen und vieles mehr erhalten.

Wir lesen zu dem Thema:

„Worin liegt die Zumutung? Dass der griechische Ministerpräsident die Schicksalsfrage seines Volkes diesem selben Volk vorlegt. Darauf reagieren der angeblich vorbildlich sparsame Bundesbürger und seine Politiker mit Panik – aber nur deshalb, weil die Finanzmärkte mit Panik reagieren. Sie alle haben sichzu Gefangenen der Vorwegnahme von Erwartungen gemacht, die an den Finanzmärkten gehegt werden.

Solche Prozesse laufen schleichend ab, sie tun ihr Werk im Halbbewussten, manchmal über Jahrzehnte, bis aus ihnen eine neue Ideologie entstanden ist. So war es immer in den Inkubationsphasen der großen autoritären Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts.“

Dieser Kommentar bezieht sich jedoch nicht auf Alexis Tsipras und die Volksabstimmung am 5. Juli 2015, die von manche einem degenerierten Kommentatoren in Deutschland schon als „rein machttaktisch“ und „populistisch“ denunziert wird.

Der Kommentar stammt von Frank Schirrmacher, geschrieben am 1.11.2011, als ein leidenschaftliches Plädoyer für den Primat des Politischen über das Ökonomische. Der Anlass damals war die Ankündigung eines Referendums durch den damaligen Pasok-Premier Georg Papandreou, der gesagt hatte, „was in den Ohren Europas wie das Gefasel eines unberechenbaren Kranken klingt: ,Der Wille des Volkes ist bindend.‘ Lehne das Volk die neue Vereinbarung mit der EU ab, ,wird sie nicht verabschiedet‘.“

Papandreou wurde kurz nach der Ankündigung aus dem Amt gejagt.Seine ruhmreiche Arbeiterpartei Pasok wurde von den Wählern auf 4 Prozent zerschmettert. Papandreous Nachfolger wurde der Goldman Sachs Banker Nikos Papademos.

Vier Jahre später: Ein neuer Premier kündigt ein Referendum an. Er lässt das Parlament darüber abstimmen, wie es die Verfassung vorsieht, und bekommt eine klare Mehrheit.

Die Euro-Retter toben, sind von ohnmächtigem Zorn erfasst, werfen die große, totalitäre Bazooka an, erklären das laufende Kredit-Programm für beendet. Die Sache eskaliert.

Die Stimme des Volkes, das ist also die maximale Bedrohung für die Euro-Zone. Die planlosen Euro-Finanzminister haben sich nicht einmal eine Sekunde damit beschäftigt. Das Volk befragen? Ja, geht’s denn noch? Seid ihr verrückt?

In der FAZ, in der Frank Schirrmacher zu Lebzeiten noch so wortgewaltig für die Demokratie gekämpft hatte, kommentiert nun ein Redakteur, der von Tsipras einmal während eines Interviews aus dem Büro geworfen wurde, weil er Tsipras unflätig attackiert hatte:

„Doch Alexis Tsipras will mit einem Referendum nicht Klarheit schaffen, sondern sein Versagen bemänteln und die Verantwortung für den Zusammenbruch seines über Jahre errichteten populistischen Kartenhauses auf den Schultern des griechischen Volkes abladen. Im Grunde hat das Referendum ohnehin schon stattgefunden – an den Geldautomaten.Dort hat Tsipras bereits verloren. Und er wird am kommenden Sonntag nochmals verlieren, sollte es tatsächlich zu einem Referendum kommen.“

Der Primat des Ökonomischen hat sich nun tatsächlich in den Köpfen festgesetzt, und es hat kein halbes Jahrzehnt gebraucht. Der Pessimismus von Frank Schirrmacher war also noch nicht tief genug: Ein Referendum findet heute an den Geldautomaten statt. Da kann man nur verlieren, vor allem, wenn man das Volk ist.

Wie alle sind Geldautomaten. Bankautomaten. Cash-Machines. Wir haben zu funktionieren. Abheben, einzahlen, ausspucken.

Und so ist es nur logisch, dass die, die über das Schicksal der Menschen bestimmen, und gewissermaßen auf der anderen Seite der Geldautomaten sitzen, es gar nicht zu einer Abstimmung kommen lassen. Die kollektive Strafe kommt, bevor die Leute noch reagieren können. Die Sequenz erreicht galaktische Dimensionen:

Freitag: Ankündigung des Referendums durch den Premier
Samstag: Debatte und Abstimmung im Parlament
Sonntag: EZB und Finanz-Industrie verfügen Banken-Schließung
Montag: Die Leute im EU-Staat Griechenland sollen gefälligst sehen, wie sie zu Rande kommen.

Wir haben den Primat des Ökonomischen schon überwunden. Wir sind in der Diktatur der supranationalen Finanzeliten angekommen. Sie ersetzen die „immateriellen Werte eines geeinten Europa“ (Schirrmacher) durch die materielle Zucht-Rute der globalen Schulden-Industrie. Die Wahlurne wird nicht mehr gebraucht. Das Referendum erfolgt durch den Geldautomaten. Wenn da Volk nicht spurt, wird der Automat abgeschaltet. Alte, Kranke, Gebrechliche? Medikamente, Kinderbetreuung, Sprit? Mütter, Studenten, Krankenschwestern?

Alle irrelevant.

Der Dämon des totalitären Geldsystems macht keine Gefangenen. Das griechische Volk braucht nicht mehr abzustimmen. Es wird verlieren, so oder so.Und es wird nicht das einzige Volk in Europa bleiben. Ab Montag gilt eine neue Währung in der Euro-Zone: Es ist die Angst vor der Versklavung durch den Geldautomaten, der uns als Segnung verkauft wurde, bis wir alle Junkies dieses Geld-, Konsum- und Wachstumswahns geworden waren.

Die Inkubationsphase der nächsten autoritären Krise ist vorüber. Sie ist angekommen und wird sich durch Europa fressen, die Griechen zuerst verschlingend, und dann immer weiter und immer tiefer hinein bis in den Norden. Auf unserem Rückzugsgefecht werden wir immer aufs Neue verlieren. Wir werden uns nicht auf die Vernunft berufen können. Denn ihr Name wäre jetzt, genau jetzt und gegenüber dem griechischen Volk, „Solidarität“ gewesen, gemeinsamer Kampf, Widerstand.

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