Donnerstag, 3. Mai 2012

Geeintes Europa? Oder das letzte Spiel?

Deutschland diskutiert seit Tagen über die Bandscheibenprobleme von Julija Tymoschenko, der ukrainischen Märtyrerin. Jetzt freut man sich hierzulande besonders auf die Fußball-EM, die im Juni aus aktuellem Anlass vielleicht in unsere Stadien verlegt wird. Derweil trainiert das britische Militär in London mit Kampfjets für den Ernstfall bei den Olympischen Sommerspielen und Frankreich bereitet sich auf einen Machtwechsel vor. Ja, in Europa ist echt was los. Kaum jemand bemerkt währenddessen, dass die Euro-Länder nacheinander abschmieren. Doch solange in deutschen Wohnstuben noch das bunte Fernsehprogramm flimmert und die Discounter bis 22 Uhr geöffnet haben, interessiert das hierzulande bislang offenbar nur wenige Leute.


In Spanien, Griechenland, Italien und den Niederlanden spitzt sich die Lage zu: In Athen erwägt man ernsthaft, aus dem Euro auszusteigen, wie das auch in den Niederlanden gefordert wird. Dort möchte Geert Wilders von der Partei die Freiheit, PVV, nicht nur aus dem Euro raus, sondern gleich völlig aus der Europäischen Union aussteigen. Wilders erwartet ohnehin ein Auseinanderbrechen der EU. Weiter sagt er: »Wenn wir kein Mitglied der EU und der Eurozone sind, dann könnten wir wieder selbst entscheiden, wer in unser Land kommt«.


Am Sonntag finden in Griechenland Parlamentswahlen statt. Bislang hatten EU, Regierungen und Banken alles getan, um das angebliche Schreckensszenario zu verhindern. Jetzt ist ein Abschied
aus der Gemeinschaftswährung wahrscheinlicher denn je: Griechenlands Ex-Finanzchef Venizelos macht das weitere Euro-Schicksal seiner Heimat von den Frankreich-Wahlen am Sonntag abhängig. Durch die anstehende Stichwahl in Frankreich wird sich Europas Schicksal wohl völlig neu ausrichten.

Der ehemalige Finanzminister rechnet nach dem Wahlausgang in Frankreich offenbar mit allem: »Es gibt bestimmte Missverständnisse, die mich beunruhigen. Zum Beispiel das Missverständnis, dass wir, was immer auch passiert, den Euro-Raum nicht verlassen werden«, so der Vorsitzende der Sozialisten gegenüber der britischen Zeitung The Guardian. Das europäische System habe viele Teilnehmer, viele Länder, viele Regierungen, viele Wähler – und es könne Ereignisse geben, die nicht kontrollierbar seien. Die Wahlen am kommenden Sonntag seien äußerst kritisch.

Venizelos könnte Recht behalten: Umfragen deuten auf eine steigende Zustimmung für jene Parteien hin, die die Hilfspakete für Griechenland ablehnen. Die Parlamentswahl in Griechenland findet zeitgleich mit der Präsidentenstichwahl in Frankreich statt. Aussichtsreichster Kandidat dort: Der französische Sozialist François Hollande. Er lieferte sich gestern einen dreistündigen Schlagabtausch im französischen Fernsehen mit einem rhetorisch versagenden Nicolas Sarkozy, jetzt ist Hollandes Sieg für viele klar.

Für Deutschland könnte das echte Probleme bringen: Zwischen Kanzlerin Merkel und dem möglichen künftigen Präsidenten Frankreichs gibt es bereits erhebliche Verständigungsprobleme. Hollande will kein »Europa der Sparpolitik«, er will den Fiskalpakt aufschnüren. Merkel will das auf keinen Fall. Sollte ihr Verbündeter Nicolas Sarkozy scheitern, und danach sieht alles aus, dann wird es spannend in Europa, denn die gesamte mühselig zusammengezimmerte Euro-Politik stünde damit erneut zur Disposition, Deutschland gerät jetzt schon zunehmend in Misskredit: Kanzlerin Merkel scheint nicht gerade ein Garant zu sein dafür, dass die Deutschen in anderen Ländern noch mit offenen Armen empfangen werden.

Der sozialistische Konkurrent Hollande machte vor wenigen Tagen deutlich, wie die Musik spielen wird, wenn er Präsident sein wird. Wörtlich kündigte er der deutschen Kanzlerin den Kampf an: »Es ist nicht Deutschland, das für die Gesamtheit Europas entscheiden wird.«

Dass sich der Wind für Angela Merkel drehen wird, ist sowieso klar. Das zeigt auch die Aussage des Euro-Gruppen-Chefs Juncker von gestern: Man tue so, als ob Deutschland das einzige tugendhafte Land der Welt wäre, »also ob Deutschland die Zeche für alle anderen Länder bezahlen müsste. Das ist in hohem Maße beleidigend für die anderen«, so der luxemburgische Regierungschef. Von den siebzehn Euro-Ländern hätten sieben Staaten weniger Schulden als Deutschland. Dies sei in einem Land, in dem pausenlos über die Frage debattiert werde, wieso es für ganz Europa bezahlen müsse, nie ein Thema, so Juncker.

Einige weitere Zahlen der letzten Tage: In Spanien sind jetzt genau so viele Menschen ohne Arbeit wie in Griechenland. Ein Viertel, knapp 25 Prozent der Menschen, haben dort keinen Job, doch von jenen, die das Land einst führen sollen, den jungen Leuten, ist bereits über die Hälfte arbeitslos, 50,5 Prozent. Was das für die Volksseele bedeutet, dürfte klar sein: Eine schleichende Depression geht durchs Land, ansteckend. Die Anzahl der Haushalte, in denen kein Familienmitglied eine Arbeit hat, stieg auf 1,7 Millionen. Die Regierung spart, weitere harte Einschnitte für die Menschen drohen, doch es ist zu spät. Standard & Poor’s stufte letzte Woche die Kreditwürdigkeit von elf spanischen Banken herab. Man denkt jetzt über eine Bad Bank nach. Die viertgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone stürzte zu Jahresbeginn offiziell in die Rezession.

Im ehemaligen Land der Mammas, Bambini und Großfamilien sieht es auch nicht besser aus: Italien weist die niedrigste Geburtenrate Europas auf, weit über ein Drittel, genauer gesagt, 35,9 Prozent der jungen Menschen sind auch hier jetzt arbeitslos. Welche Zukunftsaussichten!

Währenddessen rutschte auch Großbritannien »überraschend« wieder in die Rezession, Schrumpfung in Baubranche und Industrieproduktion erschüttern die Insel, die den Euro noch nie liebte. Außerdem proben, drei Monate vor den Olympischen Spielen in London, Kampfjets den Ernstfall für Großbritannien. Das Militär soll die Sportfestivitäten schützen! Vor was eigentlich? Terror? Gewalt? Katastrophen? Nach Angaben des britischen Militärs treffen derzeit Typhoon-Jets aus ganz England auf dem Luftwaffenstützpunkt Northolt ein. Die Luftwaffe will außerdem Puma-Transporthubschrauber und Lynx-Helikopter entsenden, die Scharfschützen an Bord haben. Auch ein Kriegsschiff wurde in die Hauptstadt verlegt. Zahlreiche Schnellboote der britischen Royal Navy jagen derzeit ebenso durch die Themse. Es sei das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass Kampfflugzeuge auf der Basis stationiert seien, heißt es. Ja, Spaß und Unterhaltung, oder besser, Brot und Spiele für das Volk müssen bei allen Krisen natürlich unbedingt gewährleistet bleiben, lenken sie doch so schön von den wahren Problemen ab. Bei diesem militärischen Schwerstaufgebot macht der Sport doch gleich dreimal so viel Spaß, oder?

Das Migrantenproblem in Griechenland bedroht jetzt zunehmend den ohnehin schwer erschütterten inneren Frieden des Landes, vor allem in jenen Athener Stadtteilen, »wo ganze Straßenzüge von afrikanischen und asiatischen Einwanderern überlaufen werden und zu Slums verkommen«. Allein in den vergangenen drei Jahren sind nach Angaben griechischer Behörden etwa eine halbe Million Menschen illegal ins Land eingereist. Rasant ansteigende Gewaltverbrechen, Drogenhandel und Prostitution gehören dort mittlerweile wie selbstverständlich zum Straßenbild.
Wenige Tage vor der Parlamentswahl am Sonntag haben die griechischen Behörden jetzt das erste Internierungslager für illegale Einwanderer am Rande der Hauptstadt Athen eröffnet. Das Lager ist für 1.200 Insassen ausgelegt. Die Menschen vor Ort haben Angst: Aus Sorge um die Zukunft demonstrieren sie nun regelmäßig. Aber wer erhört sie? Von unseren Qualitätsmedien werden diese Nöte als »Wahlkampfthema« abgetan.

In Deutschland ist jedoch, wie schon erwähnt, alles in Butter: Wir freuen uns auf die Fußball-Europameisterschaft, die wir notfalls selbst ausrichten, falls wir die Ukraine bis dahin endgültig politisch ins Aus geschossen haben. Wie gut, dass sich die hellsichtigen Vertreter von Uefa, DFB und Bundesinnenministerium bereits vor mehr als einem Jahr an einen Tisch gesetzt hatten, um genau dieses Krisenszenario zu entwickeln. Nach Aussage des Chefs der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut, ist Deutschland in der Lage, »kurzfristig die ukrainischen EM-Spiele zu übernehmen«. Ob sie damals wohl schon ahnten, dass Julija Tymoschenko einen schweren Bandscheibenvorfall erleiden würde?

Ja, Deutschland hat allen Grund zur Zuversicht: Dass der Frühjahrsaufschwung in diesem Jahr deutlich schwächer ausfällt, stört keinen großen Geist. Dieser Makel in der Statistik wird mit den Arbeitslosenzahlen wieder schöngeredet: Im April sollen sie sich wieder unter die Drei-Millionen-Marke bewegt haben, unserer eifrigen Arbeitsministerin von der Leyen an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön!

Dass diese Statistik allerdings stets so hinfrisiert wird, wie man es gerade braucht, steht natürlich auf einem anderen Blatt: Hierzulande werden die wahren Fakten nicht gerne öffentlich benannt, die Vertreter der Mainstreammedien sehen das ein und halten sich brav an die Berliner Maulkörbe. Immer wieder werden zwar von steten Mahnern die wahren Zahlen genannt, und wer sie hören und sehen will, erhält auch jetzt wieder die Chance: So soll Deutschland weitaus mehr Arbeitslose haben als von der Bundesregierung veröffentlicht. Der Bundestagsabgeordnete der Linken Schui warnt regelmäßig, aber meist geht er unter im alltäglichen Mediengetöse. Der Professor für Volkswirtschaft rechnet vor, dass die Zahl der Arbeitslosen nicht bei drei Millionen, sondern bei insgesamt fast zehn Millionen liegt.

Nein, nein, von Problemen wollen wir hier nichts wissen. Und so freuen wir uns auch über die aktuelle Meldung des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung: Nach neuesten Auswertungen ist Deutschlands Einwohnerzahl überraschend gewachsen – durch die Zuwanderung. Schon 2010 verzeichnete Deutschland nach mehreren Jahren der Schrumpfung einen Wanderungsüberschuss von knapp 130.000 Menschen. 2011 dürften die Zahlen noch deutlich höher ausfallen: Von mindestens 240.000 Personen ist jetzt die Rede. Den größten Einfluss hatte der Wegfall der Arbeitsmarktbeschränkungen für Bürger der so genannten EU-8-Länder Polen, Tschechische Republik, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen. Seit genau einem Jahr schon freut sich Deutschland dementsprechend über die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit, denn alle Bürger aus den EU-8-Staaten können seit zwölf Monaten in Deutschland ohne Arbeitserlaubnis arbeiten.

Das waren nur einige Informationen aus dem derzeitigen Europa. Vielleicht ist noch der heutige Hinweis Russlands interessant, das im Falle einer Verschärfung der gesamten Situation einen vorbeugenden Schlag gegen das Raketenabwehrsystem in Europa nicht mehr ausschließt. Der Kalte Krieg lässt grüßen.
Kein Wunder: Spekulanten wetten jetzt gegen unseren müde gewordenen Kontinent. Große Hedgefonds gehen davon aus, dass sich die Euro-Krise in den kommenden Monaten weiter verschlimmern wird. In unseren Massenmedien werden wir zwar nicht viel dramatisches über diese Entwicklungen vernehmen, dennoch dürfen wir auf die nächsten Wochen und Monate gespannt sein. 2012 dürfte als ein ereignisreiches Jahr in die Geschichtsbücher eingehen.

Quelle:  www.kopp-verlag.de