Deutschland diskutiert seit Tagen über die
Bandscheibenprobleme von Julija Tymoschenko, der ukrainischen
Märtyrerin. Jetzt freut man sich hierzulande besonders auf die
Fußball-EM, die im Juni aus aktuellem Anlass vielleicht in unsere
Stadien verlegt wird. Derweil trainiert das britische Militär in London
mit Kampfjets für den Ernstfall bei den Olympischen Sommerspielen und
Frankreich bereitet sich auf einen Machtwechsel vor. Ja, in Europa ist
echt was los. Kaum jemand bemerkt währenddessen, dass die Euro-Länder
nacheinander abschmieren. Doch solange in deutschen Wohnstuben noch das
bunte Fernsehprogramm flimmert und die Discounter bis 22 Uhr geöffnet
haben, interessiert das hierzulande bislang offenbar nur wenige Leute.
In Spanien, Griechenland, Italien und den Niederlanden spitzt sich
die Lage zu: In Athen erwägt man ernsthaft, aus dem Euro auszusteigen,
wie das auch in den Niederlanden gefordert
wird. Dort möchte Geert Wilders von der Partei die Freiheit, PVV, nicht
nur aus dem Euro raus, sondern gleich völlig aus der Europäischen Union
aussteigen. Wilders erwartet ohnehin ein Auseinanderbrechen der EU.
Weiter sagt er: »Wenn wir kein Mitglied der EU und der Eurozone sind,
dann könnten wir wieder selbst entscheiden, wer in unser Land kommt«.
Am Sonntag finden in Griechenland Parlamentswahlen statt. Bislang
hatten EU, Regierungen und Banken alles getan, um das angebliche
Schreckensszenario zu verhindern. Jetzt ist ein Abschied
aus der Gemeinschaftswährung wahrscheinlicher denn je: Griechenlands
Ex-Finanzchef Venizelos macht das weitere Euro-Schicksal seiner Heimat
von den Frankreich-Wahlen am Sonntag abhängig. Durch die anstehende Stichwahl in Frankreich wird sich Europas Schicksal wohl völlig neu ausrichten.
Der ehemalige Finanzminister rechnet nach dem Wahlausgang in
Frankreich offenbar mit allem: »Es gibt bestimmte Missverständnisse, die
mich beunruhigen. Zum Beispiel das Missverständnis, dass wir, was immer
auch passiert, den Euro-Raum nicht verlassen werden«, so der
Vorsitzende der Sozialisten gegenüber der britischen Zeitung The Guardian.
Das europäische System habe viele Teilnehmer, viele Länder, viele
Regierungen, viele Wähler – und es könne Ereignisse geben, die nicht
kontrollierbar seien. Die Wahlen am kommenden Sonntag seien äußerst
kritisch.
Venizelos könnte Recht behalten: Umfragen deuten auf eine steigende
Zustimmung für jene Parteien hin, die die Hilfspakete für Griechenland
ablehnen. Die Parlamentswahl in Griechenland findet zeitgleich mit der
Präsidentenstichwahl in Frankreich statt. Aussichtsreichster Kandidat
dort: Der französische Sozialist François Hollande. Er lieferte sich
gestern einen dreistündigen Schlagabtausch im französischen Fernsehen
mit einem rhetorisch versagenden Nicolas Sarkozy, jetzt ist Hollandes
Sieg für viele klar.
Für Deutschland könnte das echte Probleme bringen: Zwischen Kanzlerin
Merkel und dem möglichen künftigen Präsidenten Frankreichs gibt es
bereits erhebliche Verständigungsprobleme. Hollande will kein »Europa
der Sparpolitik«, er will den Fiskalpakt aufschnüren. Merkel will das
auf keinen Fall. Sollte ihr Verbündeter Nicolas Sarkozy scheitern, und
danach sieht alles aus, dann wird es spannend in Europa, denn die
gesamte mühselig zusammengezimmerte Euro-Politik stünde damit erneut zur
Disposition, Deutschland gerät jetzt schon zunehmend in Misskredit: Kanzlerin Merkel scheint nicht gerade ein Garant zu sein dafür, dass die Deutschen in anderen Ländern noch mit offenen Armen empfangen werden.
Der
sozialistische Konkurrent Hollande machte vor wenigen Tagen deutlich,
wie die Musik spielen wird, wenn er Präsident sein wird. Wörtlich
kündigte er der deutschen Kanzlerin den Kampf an: »Es ist nicht
Deutschland, das für die Gesamtheit Europas entscheiden wird.«
Dass sich der Wind für Angela Merkel drehen wird, ist sowieso klar. Das zeigt auch die Aussage des Euro-Gruppen-Chefs Juncker
von gestern: Man tue so, als ob Deutschland das einzige tugendhafte
Land der Welt wäre, »also ob Deutschland die Zeche für alle anderen
Länder bezahlen müsste. Das ist in hohem Maße beleidigend für die
anderen«, so der luxemburgische Regierungschef. Von den siebzehn
Euro-Ländern hätten sieben Staaten weniger Schulden als Deutschland.
Dies sei in einem Land, in dem pausenlos über die Frage debattiert
werde, wieso es für ganz Europa bezahlen müsse, nie ein Thema, so
Juncker.
Einige weitere Zahlen der letzten Tage: In Spanien sind jetzt genau so viele Menschen ohne Arbeit
wie in Griechenland. Ein Viertel, knapp 25 Prozent der Menschen, haben
dort keinen Job, doch von jenen, die das Land einst führen sollen, den
jungen Leuten, ist bereits über die Hälfte arbeitslos, 50,5 Prozent. Was
das für die Volksseele bedeutet, dürfte klar sein: Eine schleichende
Depression geht durchs Land, ansteckend. Die Anzahl der Haushalte, in
denen kein Familienmitglied eine Arbeit hat, stieg auf 1,7 Millionen.
Die Regierung spart, weitere harte Einschnitte für die Menschen drohen,
doch es ist zu spät. Standard & Poor’s stufte letzte Woche die Kreditwürdigkeit von elf spanischen Banken herab. Man denkt jetzt über eine Bad Bank nach. Die viertgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone stürzte zu Jahresbeginn offiziell in die Rezession.
Im ehemaligen Land der Mammas, Bambini und Großfamilien sieht es auch nicht besser aus: Italien weist die niedrigste Geburtenrate Europas auf, weit über ein Drittel, genauer gesagt, 35,9 Prozent der jungen Menschen sind auch hier jetzt arbeitslos. Welche Zukunftsaussichten!
Währenddessen rutschte auch Großbritannien
»überraschend« wieder in die Rezession, Schrumpfung in Baubranche und
Industrieproduktion erschüttern die Insel, die den Euro noch nie liebte.
Außerdem proben, drei Monate vor den Olympischen Spielen in London, Kampfjets den Ernstfall für Großbritannien.
Das Militär soll die Sportfestivitäten schützen! Vor was eigentlich?
Terror? Gewalt? Katastrophen? Nach Angaben des britischen Militärs
treffen derzeit Typhoon-Jets aus ganz England auf dem
Luftwaffenstützpunkt Northolt ein. Die Luftwaffe will außerdem
Puma-Transporthubschrauber und Lynx-Helikopter entsenden, die
Scharfschützen an Bord haben. Auch ein Kriegsschiff wurde in die
Hauptstadt verlegt. Zahlreiche Schnellboote der britischen Royal Navy jagen derzeit ebenso durch die Themse.
Es sei das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass Kampfflugzeuge
auf der Basis stationiert seien, heißt es. Ja, Spaß und Unterhaltung,
oder besser, Brot und Spiele für das Volk müssen bei allen Krisen
natürlich unbedingt gewährleistet bleiben, lenken sie doch so schön von
den wahren Problemen ab. Bei diesem militärischen Schwerstaufgebot macht
der Sport doch gleich dreimal so viel Spaß, oder?
Das Migrantenproblem in Griechenland bedroht jetzt zunehmend den ohnehin schwer erschütterten inneren Frieden des Landes, vor allem in jenen Athener Stadtteilen,
»wo ganze Straßenzüge von afrikanischen und asiatischen Einwanderern
überlaufen werden und zu Slums verkommen«. Allein in den vergangenen
drei Jahren sind nach Angaben griechischer Behörden etwa eine halbe
Million Menschen illegal ins Land eingereist. Rasant ansteigende
Gewaltverbrechen, Drogenhandel und Prostitution gehören dort
mittlerweile wie selbstverständlich zum Straßenbild.
Wenige Tage vor der Parlamentswahl
am Sonntag haben die griechischen Behörden jetzt das erste
Internierungslager für illegale Einwanderer am Rande der Hauptstadt
Athen eröffnet. Das Lager ist für 1.200 Insassen ausgelegt. Die Menschen
vor Ort haben Angst: Aus Sorge um die Zukunft demonstrieren sie nun
regelmäßig. Aber wer erhört sie? Von unseren Qualitätsmedien werden
diese Nöte als »Wahlkampfthema« abgetan.
In Deutschland ist jedoch, wie schon erwähnt, alles in Butter: Wir
freuen uns auf die Fußball-Europameisterschaft, die wir notfalls selbst
ausrichten, falls wir die Ukraine bis dahin endgültig politisch ins Aus geschossen haben. Wie gut, dass sich die hellsichtigen Vertreter von Uefa,
DFB und Bundesinnenministerium bereits vor mehr als einem Jahr an einen
Tisch gesetzt hatten, um genau dieses Krisenszenario zu entwickeln.
Nach Aussage des Chefs der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut,
ist Deutschland in der Lage, »kurzfristig die ukrainischen EM-Spiele zu
übernehmen«. Ob sie damals wohl schon ahnten, dass Julija Tymoschenko
einen schweren Bandscheibenvorfall erleiden würde?
Ja, Deutschland hat allen Grund zur Zuversicht: Dass der
Frühjahrsaufschwung in diesem Jahr deutlich schwächer ausfällt, stört
keinen großen Geist. Dieser Makel in der Statistik wird mit den
Arbeitslosenzahlen wieder schöngeredet: Im April sollen sie sich wieder
unter die Drei-Millionen-Marke bewegt haben, unserer eifrigen
Arbeitsministerin von der Leyen an dieser Stelle ein herzliches
Dankeschön!
Dass diese Statistik allerdings stets so hinfrisiert wird,
wie man es gerade braucht, steht natürlich auf einem anderen Blatt:
Hierzulande werden die wahren Fakten nicht gerne öffentlich benannt, die
Vertreter der Mainstreammedien sehen das ein und halten sich brav an
die Berliner Maulkörbe. Immer wieder werden zwar von steten Mahnern die
wahren Zahlen genannt, und wer sie hören und sehen will, erhält auch
jetzt wieder die Chance: So soll Deutschland weitaus mehr Arbeitslose
haben als von der Bundesregierung veröffentlicht. Der Bundestagsabgeordnete der Linken Schui warnt regelmäßig, aber meist geht er unter im alltäglichen Mediengetöse. Der Professor für Volkswirtschaft
rechnet vor, dass die Zahl der Arbeitslosen nicht bei drei Millionen,
sondern bei insgesamt fast zehn Millionen liegt.
Nein, nein, von Problemen wollen wir hier nichts wissen. Und so
freuen wir uns auch über die aktuelle Meldung des Berlin-Instituts für
Bevölkerung und Entwicklung: Nach neuesten Auswertungen ist Deutschlands
Einwohnerzahl überraschend gewachsen – durch die Zuwanderung.
Schon 2010 verzeichnete Deutschland nach mehreren Jahren der
Schrumpfung einen Wanderungsüberschuss von knapp 130.000 Menschen. 2011
dürften die Zahlen noch deutlich höher ausfallen: Von mindestens 240.000
Personen ist jetzt die Rede. Den größten Einfluss hatte der Wegfall der
Arbeitsmarktbeschränkungen für Bürger der so genannten EU-8-Länder
Polen, Tschechische Republik, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Estland,
Lettland und Litauen. Seit genau einem Jahr schon freut sich Deutschland
dementsprechend über die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit,
denn alle Bürger aus den EU-8-Staaten können seit zwölf Monaten in
Deutschland ohne Arbeitserlaubnis arbeiten.
Das waren nur einige Informationen aus dem derzeitigen Europa. Vielleicht ist noch der heutige Hinweis Russlands
interessant, das im Falle einer Verschärfung der gesamten Situation
einen vorbeugenden Schlag gegen das Raketenabwehrsystem in Europa nicht
mehr ausschließt. Der Kalte Krieg lässt grüßen.
Kein Wunder: Spekulanten wetten jetzt gegen unseren müde gewordenen Kontinent.
Große Hedgefonds gehen davon aus, dass sich die Euro-Krise in den
kommenden Monaten weiter verschlimmern wird. In unseren Massenmedien
werden wir zwar nicht viel dramatisches über diese Entwicklungen
vernehmen, dennoch dürfen wir auf die nächsten Wochen und Monate
gespannt sein. 2012 dürfte als ein ereignisreiches Jahr in die
Geschichtsbücher eingehen.
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