»Big brother is watching you« – als George Orwell 1949 seinen Roman 1984 veröffentlichte, gab es noch kein Internet. Sonst hätte er sein Werk, in dem er den perfekten Schnüffelstaat beschreibt, vielleicht »ACTA« genannt. Das so genannte neue Handelsabkommen, das unter strengster Geheimhaltung von einer internationalen Mauschelrunde ausgehandelt wurde, dürfte die Freiheit des Internets und die Bürgerrechte erheblich einschränken. Allmählich erkennen die ersten Politiker, dass sie sich zu willfährigen Komplizen der amerikanischen Verwertungsindustrie gemacht haben.
Am Rande des G-8-Gipfels in Sankt Petersburg im Jahr 2006 trafen sich unbemerkt von der Öffentlichkeit Regierungsvertreter aus den USA und Japan. Sie stießen ein Projekt an, das in weiten Teilen der Welt Bürger- und Informationsrechte beschneiden und die Möglichkeiten des Internets drastisch einschränken wird. »ACTA« heißt das neue internationale Handelsabkommen,
das es in sich hat und in diesen Tagen Massenproteste auslöst. Die Abkürzung steht für »Anti-Counterfeiting Trade Agreement« und verfolgt scheinbar hehre Ziele. So soll es Produktpiraterie eindämmen und die Verletzung von Patenten zum Beispiel im Bereich der Pharmazie sowie von kreativen Leistungen, die etwa Musiker und Autoren erbringen, weitgehend unterbinden.
Auf den ersten Blick ein begrüßenswerter Schritt: Wer ein Produkt einer renommierten Marke ersteht und dafür viel Geld ausgibt, will sicher sein, dass er keine dreiste Fälschung erhält. Und wenn die Arbeit eines Autors nicht mehr angemessen honoriert wird, weil seine Werke illegal und kostenlos im Internet kursieren, muss er sich bald nach einem neuen Job umschauen. Warum also die ganze Aufregung um ACTA?
Grund zur Empörung gibt es wahrlich genug. Das beginnt schon mit der unglaublichen Geheimniskrämerei der beteiligten Regierungen. Nachdem sich die USA und Japan – getrieben von den Lobbyisten der mächtigen Verwertungsindustrie – auf Verhandlungen über ein neues multilaterales Handelsabkommen verständigt hatten, wurden auch andere Länder mit ins Boot geholt, darunter alle Staaten der Europäischen Union, Kanada, Jordanien, Mexiko, Marokko, Australien, Neuseeland, die Schweiz, Singapur, Südkorea und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Die Verhandlungen über die Details von ACTA begannen im Jahr 2008 in Genf. Man traf sich hinter verschlossenen Türen und vereinbarte Verschwiegenheit. Die Geheimgespräche wurden jeweils in einer anderen Stadt rund um die Welt geführt. Gleich nach der ersten Verhandlungsrunde zogen sich die Vertreter der Vereinigten Arabischen Emirate und Jordaniens zurück.
Lange Zeit blieb den Bürgern verborgen, was die Geheimniskrämer dort in strengster Vertraulichkeit verhandelten. Später gab es erste Gerüchte, die Staaten planten, unter dem Vorwand einer effizienteren Bekämpfung von Urheberrechtsverletzungen die Freiheit des Internets erheblich einzuschränken.
Was dann nach der abschließenden Verhandlungsrunde im Dezember 2010 in Sydney äußerst zähflüssig an die Öffentlichkeit gelangte, sorgte jetzt für einen Aufschrei in der internationalen Internet-Gemeinde. Tatsächlich könnte es mit der Freiheit im Netz bald vorbei sein, kommt es zur Umsetzung der ACTA-Pläne in der geplanten Form. Grund- und Freiheitsrechte werden eingeschränkt, Datenschutzbestimmungen aufgeweicht. Die Internetdienstanbieter (Provider) sollen gezwungen werden, den Kommunikationsverkehr ihrer Kunden zu überwachen und Verstöße gegen das Urheberrecht zu melden. Zudem können die Provider auch direkt für Urheberrechtsverletzungen ihrer Kunden haftbar gemacht werden. Das ist vergleichbar mit der Vorstellung, die Post würde grundsätzlich jedes Päckchen und Paket vor der Auslieferung öffnen, den Inhalt kontrollieren und in Verdachtsfällen die Behörden einschalten.
Durch ACTA wird es möglich sein, künftig jede Bewegung und Kommunikation im Internet zu überwachen und jeden Nutzer von Musik- oder Videodateien unter Generalverdacht zu stellen. Die schwammigen Formulierungen im ACTA-Abkommen lassen sich zudem sehr weit auslegen. Angebote wie Youtube würden in der jetzigen Form bald nicht mehr möglich sein. Unter dem Deckmantel des Urheberrechtsschutzes könnte ACTA zu einem wirkungsvollen Instrument zur weltweiten Durchsetzung von Internetsperren werden.
Erst jetzt formiert sich in vielen Staaten massiver Widerstand gegen dieses so genannte Handelsabkommen. Dabei läuft den Kritikern die Zeit davon. Mitte Januar hat die Europäische Union das Abkommen bereits unterschrieben. Und auch wenn die Unterzeichnung durch die Bundesregierung noch aussteht, hat Berlin offenbar keine Bedenken gegen das Vertragswerk. Die liberale Justizministerin ließ erklären, sie teile die Meinung der Kritiker nicht. ACTA enthalte nicht die Möglichkeit, Internetsperren oder Zugangssperren einzuführen.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk ist offenkundig anderer Meinung. Er stoppte die Ratifizierung des ACTA-Abkommens und kritisierte unvollständige Beratungen. Offensichtlich haben die massiven Proteste in Polen Wirkung gezeigt. Im Januar kam es im Nachbarland zu Protesten, die sogar mit jenen der Gewerkschaft Solidarność Anfang der 1980er Jahre verglichen wurden. In Deutschland, Österreich und einigen weiteren europäischen Staaten soll am 11. Februar gegen ACTA demonstriert werden.
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