Menschliches Verhalten wird wesentlich durch die Wahrnehmung bestimmt. Dass und wie ein Mensch sich verhält, hängt davon ab, wie er die ihn umgebende Welt wahrnimmt. Wahrnehmung ist kein fotografischobjektives Registrieren der Umwelt. Unsere Sinne können uns täuschen – sie sind zahlreichen Korrekturen, Einflüssen, Störungen und Fehlern unterworfen. Handeln in Problem- und noch mehr in Gewaltsituationen beruht häufig auf eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit, verbunden mit mangelnder Informationsverarbeitung. Sind diese Situationen zudem noch emotional stark aufgeladen, schränken sich unsere Verhaltensmöglichkeiten auf wenige „erprobte Konstanten“ ein. Doch diese sind meist nicht angemessen. Fehlwahrnehmungen, eingeschränkte Wahrnehmungen oder falsche Interpretation und Verarbeitung des Wahrgenommenen bewirken oft falsche oder unangemessene Reaktionen.
Die Schulung der Wahrnehmung, das Kennen von Wahrnehmungsprinzipien und das Wissen um die Lücken- und Fehlerhaftigkeit der Wahrnehmung, verbunden mit der überprüfung des Wahrgenommenen und dessen Interpretation, sind zentrale Voraussetzungen für gelungene Kommunikation. Ebenso sind sie auch für konstruktive Konfliktbearbeitung und einen deeskalierenden Umgang mit Gewaltsituationen von entscheidender Bedeutung.
Lernen beruht auf Wahrnehmung
Der Mensch benötigt seine Sinne, um die Welt und auch sich selbst erfahren und erkennen zu können. Doch alle Wahrnehmung ist bruchstückhaft und verzerrt. Aus der gewaltigen Menge der Reize werden nur wenige ausgewählt. Die Auswahl entspricht nicht nur der Intensität der Reize, sondern auch den eigenen Bedürfnissen. Wahrnehmung vermittelt kein objektives Abbild von Realität, sondern ist ein komplizierter Prozess der Informationsverarbeitung, der neue – nämlich subjektive – Wirklichkeiten schafft.
Nicht das Auge, sondern das Gehirn ist das wichtigste Wahrnehmungsorgan. Unsere Sinne vermitteln uns keine direkten spiegelbildlichen Eindrücke, sondern unzählige Signale, die auf Nervenzellen treffen und dort in die „Sprache des Gehirns“, in elektrische Nervenimpulse umgewandelt und an das Gehirn weitergeleitet werden. Die eigentliche Frage ist dabei, wie aus physikalischer Energie psychologische Bedeutung entsteht. Denn erst das Gehirn verbindet die elektrischen Impulse mit bestimmten Bedeutungsinhalten. Lichtwellen werden so z.B. im Gehirn als Farbe und Schallwellen als Töne empfunden. Dabei ist die Frage, wie dies genau vonstatten geht und warum wir aus all‘ den Umweltreizen bestimmte ganzheitliche Eindrücke herausfiltern und als zusammenhängende sinnvolle Bedeutungsmuster erkennen, bislang weitgehend ungeklärt. Wie also kommt die Welt in den Kopf und wie bekommt diese Welt ihre Bedeutung?
Achtsamkeit
Achte auf deine Gedanken, denn sie werden deine Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden deine Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.
Klosterinschrift in England. Zitiert nach: Evang. Jugendzentrum „Auf der Höhe“ Essen u.a. (Hrsg.): Sinn des Lebens. Villigst 2005, S. 98.
Soziale Wahrnehmung
Soziale Wahrnehmung bedeutet sowohl Wahrnehmung von Sozialem (Personen) als auch die Mitbedingtheit der Wahrnehmung durch Soziales. Die jeweilige Wahrnehmung steuert das Verhalten. Wahrnehmung ist dabei ein Kompromiss zwischen dem, was der Mensch wahrzunehmen erwartet (Hypothese) und dem, was er faktisch an Umweltaufschluss vorfindet. Wahrnehmungsgesetze sind deshalb keine objektiven Mechanismen, sondern subjektive Konstruktionsprinzipien.
In der Gestaltpsychologie wurden eine Reihe von „Wahrnehmungsgesetzen“ formuliert:
Das Gesetz der Geschlossenheit
Geschlossene Wahrnehmungsgegenstände haben größere Aussichten als Gestalten (zusammengehöriges Ganzes) wahrgenommen zu werden als nicht ganz geschlossene. Fehlende Teile werden zu geschlossenen Gestalten ergänzt.
Blaue Spaghetti? Warum mögen Sie keine blauen Spaghetti? Zu künstlich? Woher kommt die Gewissheit, dass weiße Spaghetti natürlicher und gesünder sind? Welche Farbe hat die Zukunft, welche Liebe, welche Hass? Wie sieht etwas Giftiges aus? Obwohl diese Fragen auf den ersten Blick unsinnig erscheinen, haben Menschen natürlich eine genaue (subjektive) Vorstellung davon, denn sie ordnen bestimmten Empfindungen bestimmte Farben zu.
Günther Gugel/Uli Jäger: Weltsichten. Tübingen 1999, S. 85.
Physiologische Wirkung von Farben
Die physiologische Wirkung der Farben nehmen wir meist nicht bewußt wahr. (...) Eine Wirkung der Farben auf Kreislauf und Nervensystem stellt sich vor allem ein, wenn man farbiger Beleuchtung ausgesetzt ist. (...) Die einzelnen Farben haben recht unterschiedliche Wirkung:
- Gelb erhöht die Motorik, belebt, wirkt anregend und erheiternd.
- Orange aktiviert und wirkt bewegend.
- Rot aktiviert sehr stark und erregt, es steigert die Empfindung.
- Violett macht passiv und wirkt beruhigend.
- Blau erhöht die Konzentration, es kann aber auch deprimieren.
- Grün wirkt ausgleichend, stark beruhigend, eventuell auch abstumpfend.
Eine völlig „farblose”, also unbunte Umgebung ermüdet den Menschen auf die Dauer und stumpft ihn ab.
Ruth Bleckwenn/Beate Schwarze: Gestaltungslehre. Hamburg 1995, S. 59.
- Das Gesetz der Nähe
Näher zusammenliegende (stehende ...) Teile (Personen, Gegenstände ...) werden als zusammengehörig wahrgenommen (räumliche und/oder zeitliche Nähe).
- Das Figur-Hintergrund-Prinzip
Gegenstände (Ereignisse, Personen ...) werden in ihrer Beziehung zur Umgebung (Umwelt) wahrgenommen, der Kontext bestimmt, was wirklich wahrgenommen wird.
- Bewegung ermöglicht Wahrnehmung
Tiere, die still auf der Stelle verharren, können von ihren Feinden in der Regel nicht wahrgenommen werden. Erst, wenn sie sich bewegen, werden sie zur Beute. Helle Punkte in einem dunklen Umfeld ergeben noch keine Struktur und noch keinen Sinn. Erst, wenn sie bewegt werden ist eine Figur zu erkennen.
Wahrnehmung ist dabei immer
- selektiv, d.h. aus den vielen Reizen werden besonders ansprechende „ausgesucht“;
- organisierend und gestaltend, d.h. die Umwelt wird entsprechend den eigenen Stimmungen und Motiven organisiert;
- akzentuiert, d.h. das selektierte Material wird nochmals in wichtig und weniger wichtig differenziert;
- fixierend, d.h. Voreingenommenheiten, Stereotype und Vorurteile wirken sich bestätigend aus. Nur wenige Merkmale des Wahrgenommenen werden herausgegriffen.
Wahrnehmungsmuster sind zudem kulturell geprägt. Die gleichen Ausdrucksgesten werden in verschiedenen Ländern unterschiedlich interpretiert und verstanden, was zu vielerlei Missverständnissen führen kann.
Die Grenzen der Wahrnehmung
Unser Wahrnehmungsapparat ist äußerst begrenzt und lässt sich zudem leicht (z.B. optisch) täuschen. Wir können nur einen Teil der äußeren Wirklichkeit mit unseren Sinnen aufnehmen. So können z.B. unsere Ohren nur einen sehr schmalen Frequenzbereich hören. Wir sehen mit unseren Augen nur einen bestimmen Ausschnitt, und wir nehmen nur bestimmte Wellenlängen des Lichtes wahr. Unsere Geschmacksorgane können viele gefährliche Substanzen, die geschmacksneutral sind, nicht identifizieren. Die sensorische Ausstattung der Menschen kann weder Utraschall noch Radioaktivität registrieren. Wir können nicht feststellen, ob Lebensmittel mit chemischen Substanzen vermischt sind oder ob sie gentechnisch manipuliert wurden.
Doch nicht nur biologische und anthropologische Faktoren spielen eine Rolle. Oft begünstigen Vorurteile oder Stereotype eine „falsche“ Wahrnehmung. Auch Angst oder Stress führen zu stark eingeschränkter oder verzerrter Wahrnehmung. Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt, also Bezugsgruppen, beeinflussen außerordentlich stark die Wahrnehmung und damit verbunden die Bewertung des Wahrgenommenen. So besteht z.B. eine Tendenz zur Angleichung von Meinungen in Gruppen, deren Mitglieder in einem engen Kontakt miteinander stehen. Gruppenteilnehmer trauen der Gruppenwahrnehmung mehr als ihrer eigenen und korrigieren die eigene Wahrnehmung zugunsten der Gruppenwahrnehmung. Vorurteile und Feindbilder sind vor allem Gruppenphänomene. Es sind Urteile von Gruppen über andere Gruppen, die sich hartnäckig einer überprüfung und Korrektur entziehen.
Emotionen kontrollieren Emotional gesunde Kinder lernen, ihre Emotionen zu kontrollieren, indem sie sich selbst behandeln, wie ihre Eltern sie behandelt hätten. Geht es um unangenehme Gefühle wie Angst, Sorge oder Wut, müssen wir uns Wege überlegen, damit umzugehen.
Jörg Mertens: Emotionale Intelligenz. http://emotions.psychologie.uni-sb.de
Quelle: Wir stärken Dich e.V.