Freitag, 27. April 2012

»Babylonische Gefangenschaft«: Warum Israel ohne die USA Krieg beginnen kann

Krieg bedeutet Tod, Schulden und, wenn die Entscheidung falsch war, möglicherweise das Ende der Zivilgesellschaft und der vorherrschenden politischen Ordnung. Weil Krieg potenziell so schreckliche Folgen hat, wurde die Vollmacht zahlreicher Regierungen, eine solche Entscheidung zu treffen, durch verfassungsrechtliche und andere politische Hürden eingeschränkt.

Vielleicht ist es eine treffende Ironie, dass die älteste Republik der Welt – die Vereinigten Staaten – gegen ihre Verfassung verstieß, als sie dem Präsidenten die Vollmacht verlieh, in einen bewaffneten Konflikt einzutreten, ohne offiziell einen Krieg erklären zu müssen – sozusagen auf dem kurzen Dienstweg. Seit 2001 befindet sich Amerika ununterbrochen im Krieg, und in dem vor kurzem verabschiedeten National Defense Authorization Act 2012 (in dem der Haushalt des Verteidigungsministeriums bestimmt, aber auch andere Befugnisse geregelt werden) wurde praktisch rechtlich verbindlich festgelegt, dass die ganze Welt ein Kriegsschauplatz sei und jeder Mensch als potenziell feindlicher Kombattant betrachtet werden müsse, der keinerlei Schutz durch Verfassung oder Rechtsvorschriften genieße.


Viele Kritiker der auf ewig angelegten Sonderbeziehungen, die die Vereinigten Staaten mit Israel unterhalten, haben auf eine beunruhigende Veränderung dieser Beziehungen in den ersten drei
Jahren der Präsidentschaft Obamas hingewiesen. Offensichtlich stand Obama zunächst dem arrogant auftretenden israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ablehnend gegenüber, und dieses Gefühl beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Obama sind aber in dieser Beziehung zu Israel auf eine Weise die Hände gebunden, die ihm keinen Spielraum ermöglicht, das zu tun oder zu unterlassen, was er für richtig hält. Selbst George W. Bush konnte Israel ein klares Nein sagen, als sich abzeichnete, dass Tel Aviv den Iran angreifen wollte. Aber Obama hat sich selbst in eine Situation gebracht, in der die USA wenig oder keinen Einfluss auf die kommenden Ereignisse haben. Ob Obamas Zurückhaltung nun dem Einfluss geschuldet ist, den seine milliardenschweren Mentoren aus Chicago, die Familien Crown und Pritzker, ausüben, die beide eine Beibehaltung des Status quo im Nahen und Mittleren Osten befürworten, oder ob es sich eher um eine allgemeine Sorge und Unsicherheit im Zusammenhang mit dem anstehenden Wahlkampf für seine Wiederwahl handelt, das Resultat ist auf jeden Fall eine politische Lähmung in Washington. Die Kriegssimulationen, die das Pentagon erst vor kurzem veranstaltete, haben deutlich gemacht, dass die USA schnell in einen weiteren [militärischen] Konflikt mit dem Iran, der von Israel ausgelöst würde, hineingezogen würden und sich dieser Krieg zu einem Regionalkonflikt ausweiten würde. Ein solcher Krieg brächte niemandem Vorteile und wirkte sich vor allem für die USA negativ aus, denen bei steigenden Energiepreisen ein neuerlicher Absturz in eine tiefe Depression drohte.

Israel könnte also einen Krieg beginnen, und die USA könnten nichts dagegen unternehmen und müssten mit erheblichen negativen Konsequenzen rechnen, wie auch immer der Konflikt ausginge. Wenn diese Einschätzung zutrifft, warum berichten die Leitmedien dann nicht darüber? Immerhin berichtete die New York Times über die besorgniserregenden Ergebnisse der Kriegssimulationen, und auch andere Medien griffen dieses Thema auf, aber wie so oft bei Artikeln, die eine kritische Haltung gegenüber Israel und seiner Politik einnehmen, wurde die Angelegenheit dann nicht mehr weiter verfolgt. Unterstützer dieser israelischen Politik haben vielleicht auch schnell festgestellt, dass die Kritik gegen einen weiteren Krieg aus den Reihen derer kam, die dafür bekannt sind, dass sie eine interventionistische Politik aus philosophischen Gründen ablehnen, wie die Unterstützer des republikanischen Bewerbers um die Präsidentschaftskandidatur Ron Paul und zahlreiche Personen, die die Internetseite www.antiwar.com mit Beiträgen und Geld unterstützen. Aber da die Befürworter eines Krieges vorgeben, eine Unterstützung Israels entspreche den amerikanischen Interessen, sollten sie sich einmal intensiver mit einem Dokument auseinandersetzen, das kürzlich von WikiLeaks veröffentlicht wurde. Dieses Dokument lässt einen besser verstehen, warum die USA Israel unausweichlich folgen werden, welche Richtung das Land in außen- und sicherheitspolitischen Belangen auch einschlagen wird.

Im Folgenden finden Sie die ungekürzte Zusammenfassung des geheimen Memorandums:
»Geheimkabel der amerikanischen Botschaft in Tel Aviv, 12. Dezember 2009.
1. (Z) Zusammenfassung:  Die Staatsekretärin für Rüstungskontrolle und internationale Sicherheit [des amerikanischen Außenministeriums] Ellen Tauscher besuchte Israel am 1. und 2. Dezember. Im Mittelpunkt ihres Besuchs standen Vorbereitungen für einen Erfolg der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag (NPT – RevCcon) im Mai 2010. Sie beriet sich mit Vertretern der israelischen Regierung über eine mögliche Strategie hinsichtlich der anhaltenden ägyptischen Forderung der Errichtung einer atomwaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten. [Diese Forderung] solle die Aufmerksamkeit vom Iran ab- und auf Israel lenken. Staatssekretärin Tauscher bekräftigte, die USA würden nichts unternehmen, was die Sicherheit Israels gefährde, und sich eng mit Israel absprechen – dies wurde von den israelischen Regierungsvertretern mit großer Genugtuung aufgenommen. Aber Tauscher machte ebenfalls deutlich, die USA seien daran interessiert, auszuloten, welche kleinen Schritte Israel möglicherweise unternehmen könnte, um einige ägyptische Bedenken im Zusammenhang mit einer atomwaffenfreien Zone wegen der Nichtumsetzung der Resolution 1995 auszuräumen. Die israelischen Regierungsvertreter bewerteten ein solches Vorgehen weitgehend ablehnend und fragten, warum Israel als Teil des Problems dargestellt werden solle. Sie forderten, auf Präsident Mubarak direkt müsse unter Umgehung des ägyptischen Außenministeriums mehr Druck ausgeübt werden. Man müsse ihn daran erinnern, dass der Iran in der Region die atomare Bedrohung darstelle. Zu weiteren Gesprächsthemen gehörten die Pläne Präsident Obamas zur Rüstungskontrolle und zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, der P5 +1-Prozess [die Verhandlungen der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und Deutschlands mit dem Iran] und das iranische Atomprogramm, der FMCT [Fissile Material Cutoff Treaty, Vertrag für ein verlässliches Verbot der Herstellung spaltbaren Materials für Atomwaffen] und der CTBT [Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, Umfassender Atomwaffentestverbotsvertrag], die Pläne Jordaniens zum Bau eines Kernreaktors und Israels ›qualitativer militärischer Vorsprung‹ (QME).«

Washington opfert ein vitales Interesse, nämlich die Kontrolle und Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen über die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone, um es Israel weiterhin zu ermöglichen, eine »geheime« Atommacht zu bleiben und seine Nachbarn zu dominieren. Man kann das Dokument auch anders verstehen, wenn man will, aber es scheint offensichtlich, dass Washington zusammen mit Israel insgeheim darauf hinarbeitet, das israelische Atomprogramm weiterhin einer genauen Prüfung [durch unabhängige internationale Einrichtungen] zu entziehen. Für beide Seiten ist eine Konferenz zur Nichtweiterverbreitung gerade dann erfolgreich, wenn [das Atomwaffenprogramm] Israels dort überhaupt nicht zur Sprache kommt. Wären die USA ernsthaft daran interessiert, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu begrenzen oder gar zu verhindern, sollte man annehmen, dass das israelische Atomprogramm als Teil des Problems einbezogen würde. Aber Israel hat deutlich gemacht, dass es jeglichen Vorschlag in dieser Richtung als inakzeptabel zurückweist, und die Regierung Obama hat anstandslos eingewilligt und darauf verzichtet, politische Alternativen vorzuschlagen. Tauscher geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie anbietet, Washington werde niemals Schritte unternehmen, die die »Sicherheit Israels gefährden« (so, wie Israel sie selbst sieht).

Tauscher und ihre israelischen Gesprächspartner ziehen es vor, die ganze Aufmerksamkeit [und alle Schuldzuweisungen] auf den Iran zu lenken, wobei sie diese Sichtweise unter Umgehung des ägyptischen Außenministeriums praktisch durch die Hintertür direkt Präsident Hosni Mubarak nahe bringen wollen, von dem sie annehmen, dass er sie teilt. Der Iran hatte damals keine Atomwaffen und besitzt auch heute noch keine, ebenso wenig wie ein Atomprogramm [das auf die Herstellung von Atomwaffen abzielt], während Israel über Hunderte von atomaren Sprengköpfen und sowohl über Raketen als auch über Unterseeboote verfügt, die diese ans gewünschte Ziel bringen können. Aber solche Tatsachen sollten eine freundliche Diskussion unter Freunden nicht beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass der »qualitative militärische Vorsprung« Israels schon ein so fester Bestandteil der amerikanischen Sicherheitsdoktrin geworden ist, dass er seine eigene Abkürzung erhält – QME.

Die »babylonische Gefangenschaft« bezieht sich in der Bibel auf die Eroberung des antiken Israels durch die Babylonier, in deren Folge das israelische Volk angeblich aus seiner Heimat vertrieben wurde und sich in Babylon niederlassen musste [598 v.u.Z. bis 539 v.u.Z., ironischerweise endete die babylonische Gefangenschaft mit der Eroberung durch den Perserkönig Kyros II.]. Später wurde dieser Begriff auch auf die mittelalterliche »babylonische Gefangenschaft der Kirche« (das »Avignonesische Exil«) angewandt, als der französische König Philipp IV. 1309 die Umsiedlung des Papstes (Clemens V.) und eines Großteils der Kurie in das schöne Avignon durchsetzte. Erst 68 Jahre später kehrte das Papsttum wieder nach Rom zurück. Die Franzosen versuchten, den erheblichen Einfluss des Papstes und seiner umfangreichen Bürokratie zur Unterstützung ihrer eigenen außenpolitischen Ambitionen zu nutzen. Vielleicht ist der Begriff der »babylonischen Gefangenschaft« als Metapher zur Beschreibung dessen, was sich zwischen Washington und Tel Aviv ereignete, gut geeignet. Immerhin geht es heute darum, dass Entscheidungen, die für die USA zentrale Bedeutung haben, in die Hände Israels gelegt werden. Der Bericht an das amerikanische Außenministerium legt in aller Deutlichkeit offen, dass das amerikanische Volk nicht länger Herr seiner eigenen Außenpolitik ist und derartige Probleme bestenfalls mit Israel verhandeln kann, gleichzeitig aber Tel Aviv praktisch seine umfassende Blanko-Unterstützung zusichert.

Sollte nach den Präsidentschaftswahlen im November ein Republikaner ins Weiße Haus einziehen, wird sich die Lage nur noch verschlimmern, da Mitt Romney schon explizit erklärt hat, er würde Israel in allen den Nahen und Mittleren Osten betreffenden Sicherheitsfragen den Vortritt lassen. Vielleicht ist es an der Zeit, die Bevölkerung der USA wachzurütteln. Anstatt  ihre Ergebenheit gegenüber Israel zu demonstrieren, sollten die Präsidentschaftskandidaten lieber herausstellen, dass sie in Zukunft im Interesse des amerikanischen Volkes handeln wollen. Dazu gehörte es auch, einen überflüssigen Krieg gegen den Iran auszuschließen, der nicht nur eine Schande wäre, sondern auch dazu beitrüge, die USA weiter in die Knie zu zwingen. Die meisten Amerikaner ziehen es vor, zu glauben, dass die Außenpolitik ihres Landes ihr normales, alltägliches Leben kaum beeinflusst, aber darin irren sie. Die Kriege im Mittleren Osten und Zentralasien haben die amerikanische Wirtschaft zerrüttet und Amerika schon fast in einen Polizeistaat verwandelt. Man muss Israel in aller Deutlichkeit klarmachen, dass es auf sich allein gestellt ist, wenn es seine Nachbarn beherrschen und Krieg führen will. Dies würde völlig neue Perspektiven eröffnen und viel dazu beitragen, dass die amerikanische Politik auch wieder in den USA entschieden wird.

 Quelle:

www.kopp-verlag.de