KATHARINA MITTELSTAEDT2. September 2015, 05:30
Cyborgs verbinden die meisten mit Science-Fiction. Genau genommen sind wir aber längst Mischwesen – und werden dadurch gefährlich effizient
Alpbach – Bis zu seinem 21. Geburtstag war die Welt Neil Harbissons grau. Wiese: dunkelgrau. Himmel: hellgrau. Blumen: je-nachdem-grau. Fernsehen: schwarz-weiß. Im Jahr 2003 startete er gemeinsam mit internationalen Wissenschaftern ein Projekt, dessen Resultat die Vorstellungskraft der meisten Menschen wohl fast übersteigt – seit einigen Jahren kann der britisch-irische Künstler Harbisson Farben hören.
Er trägt dafür ein elektronisches Auge in der Mitte seiner Stirn. Einen Sensor, der Farben wahrnimmt und an einen Chip an seinem Hinterkopf weiterleitet. Der wiederum wandelt die Farbfrequenzen in hörbare Frequenzen um. Wiese: dumpfes Brummen. Himmel: etwas höheres Summen. Blumen tönen je nachdem. Fernsehen: in akustischer Farbe. Das Gerät ist inzwischen ein anerkannter Teil seines menschlichen Körpers. Hochoffiziell. Für sein Passfoto wurde er mit seinem dritten Auge abgelichtet. Neil Harbisson ist der erste von einer Regierung anerkannte Cyborg.
Geborene Cyborgs
"Wir Menschen sind geborene Cyborgs", verkündet der britische Philosoph Michael Wheeler gleich zu Beginn seines Vortrags zum Thema "Human Enhancing Technologies" im Rahmen der Technologiegespräche des Europäischen Forums Alpbach. Schließlich haben wir unterschiedlich komplexe Technik, die den Menschen schneller, besser, effizienter macht, längst in unseren Alltag integriert: die Lesebrille, das Auto, ein Smartphone. Was ist der Unterschied zwischen jemandem, der ein Gerät benutzt, um weiter in die Ferne zu sehen, und dem Cyborg Harbisson, der eines hat, um Farben wahrnehmen zu können?
Erweiterung des Horizonts
Die vielleicht offensichtlichste Form der Verschmelzung von Mensch und Maschine sind Prothesen. Michael Russold, Spezialist für biomedizinische Technik und Leiter der Abteilung Neurostimulation des Prothesenherstellers Otto Bock, kennt natürlich einige Extrembeispiele: "Menschen, die nach schweren Schulterverletzungen eine Art toten Arm haben, den sie nicht mehr bewegen können, entscheiden sich häufig freiwillig für eine Amputation und eine Prothese. Durch sie können sie ihren Arm wieder spüren."
Russold steht seiner eigenen Branche allerdings auch kritisch gegenüber: "Das mechanische Doping des Menschen wird weitgehend von militärischer Seite vorangetrieben. Es fehlt ein öffentlicher Diskurs darüber, inwiefern sich ein Mensch technisch tunen darf, in welchem Ausmaß das ethisch vertretbar ist. Die Gesellschaft und unsere Gesetze hinken der technischen Entwicklung hinterher. Niemand weiß derzeit, wohin das führen wird."
Denn wie schnell, wie stark, wie effizient oder gesund ein Mensch ist, wird, je mehr der technische Aufputz dafür verantwortlich ist, auch immer mehr zu einer Frage des Geldes – von Staaten wie auch von Einzelpersonen.
Bessere Konzentration
"Die Weltbevölkerung wächst, die Menschen werden älter. Es gibt einen immer größeren Bedarf an Gesundheitsversorgung und an technischem Fortschritt, um diesen decken zu können", sagt Boris de Ruyter, Forscher bei Philips. Doch was macht es mit uns, zur Mensch-Maschine zu werden, krumm sitzend auf Bildschirme zu starren, immer schneller, stärker, besser sein zu sollen? "Wir verlieren den Bezug zu unserem Körper", sagt Kristina Höök vom Royal Institute of Technology in Stockholm. Sie ist die personifizierte Antithese zur Effizienzsteigerung und hat sich der Somästhetik verschrieben, der Fähigkeit, den eigenen Körper wieder wahrzunehmen – mit technischer Unterstützung.
Höök und ihr Team basteln an Apps, die Anweisungen geben, um auf Wärmematten Körperregionen zu erfühlen. Die Schwedin sagt: "Die Objektivierung des Körpers führt zur Abschaffung von Identität. Die technische Entwicklung sollte sich viel mehr auf das Wohlbefinden konzentrieren. Wir sollten daher nicht schneller werden, sondern viel mehr Spaß haben." (Katharina Mittelstaedt, 2.9.2015)
Wissen: Cyborgs und Fakes
Hollywood ist nicht immer besonders trennscharf. Das führt schon einmal zur allgemeinen Volksverwirrung. Denn: Terminator, der wahrscheinlich weltberühmteste Cyborg, der ist eigentlich gar keiner. Als Cyborg werden jene Mischwesen bezeichnet, die aus lebendigem Organismus und Maschine bestehen – also Menschen, deren Körper mit Technik und künstlichen Bauteilen aufgemotzt wurden. Der Terminator im gleichnamigen Film hingegen ist ein sogenannter Android, ein Roboter, der einem Menschen nur täuschend ähnlich sieht.
Der Begriff Cyborg leitet sich vom englischen "cybernetic organism" ab. Ab wann man zu einem solchen wird, ist Definitionssache: Für manche ist bereits ein Cyborg, wer sich mit Technik umgibt oder eine Brille trägt. Für andere sind Cyborgs etwa Menschen mit Prothesen. (mika)
Quelle: http://derstandard.at/2000021582944/Wir-sind-alle-Hybride-aus-Organismus-und-Technik
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