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Freitag, 27. Februar 2015

Der Sonderforschungsbereich 597 "Staatlichkeit im Wandel"

Sfb 597 "Staatlichkeit im Wandel": http://www.staatlichkeit.uni-bremen.de/Getragen von der Universität Bremen, der Jacobs University Bremen sowie der Universität Oldenburg, hat seine Arbeit im Dezember 2014 eingestellt.

Gemeinsamer Gegenstand der Forschungsarbeit in den Disziplinen Politikwissenschaft, Soziologie, Rechts-, Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaften ist die Frage, ob und in welcher Weise sich der klassische Nationalstaat in den letzten 30 Jahren unter dem Druck von Globalisierung oder Liberalisierung verändert hat.

Dabei erbrachten die Ergebnisse der ersten Forschungsphase (2003-2006) eine Vielzahl von Änderungen moderner Staatlichkeit. Die oft zu vernehmende Behauptung vom Zerfall des Staates, gar vom Ende der Politik und von der Übernahme der Macht durch Multinationale Konzerne erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als völlig überzogen. Der Staat zieht sich aus der Bereitstellung einiger Dienstleistungen (Post, Telekommunikation, Elektrizität) zurück. Die politische Letztverantwortung verbleibt aber nach wie vor bei ihm.

In der zweiten Forschungsphase (2007-2010) ging es dem Sonderforschungsbereich vor allem darum, die Ursachen für den zu beobachtenden Wandel zu ergründen. Säkulare Großtrends wie Globalisierung oder Individualisierung wirken im Wesentlichen als breite Antriebskräfte, die die einzelnen Ausprägungen der staatlichen Reaktionen jedoch selten erklären können. Hier spielen vielmehr institutionelle oder ideelle Weichensteller eine zentrale Rolle.

Die dritte Forschungsphase (2011-2014) sollte nun klären, wie diese Veränderungsprozesse sich auf die Bereitstellung normativer Güter moderner Staatlichkeit (Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Wohlfahrt, Legitimation) auswirken. Werden weniger solcher Güter produziert oder sinkt deren Qualität?

Quelle: http://www.sfb597.uni-bremen.de/pages/welcome.php?SPRACHE=de




Forschungskonzept

Im Sonderforschungsbereich 597 "Staatlichkeit im Wandel" (TranState) wird seit 2003 der Wandel von Staatlichkeit in der OECD-Welt des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts untersucht. Ausgangspunkt und Vergleichsmaßstab ist dabei der demokratische Rechts- und Interventionsstaat – im Folgenden als DRIS abgekürzt – der 1960er und 1970er Jahre.

Der Staat dieser Zeit war durch eine hohe Konzentration von Entscheidungs-, Organisations- und Letztverantwortung für das Erbringen eines breiten Portfolios von Aufgaben mit hohem normativen Rang gekennzeichnet. Er war Gewaltmonopolist und Rechtsgarant, zentrale Legitimationsinstanz, Wachstums- und Wohlfahrtsproduzent, und er hatte zur Gewährleistung von Sicherheit und Wohlstand vielfältige Aufgaben der Intervention in den Wirtschaftsprozess sowie der Bereitstellung öffentlicher Güter übernommen. Natürlich waren auch nichtstaatliche Akteure – internationale Organisationen, private Unternehmen, nationale und transnationale Verbände – an der Erbringung dieser Aufgaben beteiligt, aber die Gesamtkonstellation war von der herausgehobenen Position des Staates bestimmt.

Seine besondere Stellung erhielt der DRIS dadurch, dass in einem weltgeschichtlich nicht gekannten Maße die gleichzeitige Realisierung der vier normativen Güter Rechtsstaatlichkeit, demokratische Legitimität, Wohlfahrt und Sicherheit gelang. Aus diesem Grund sprechen viele im Rückblick auf diese beiden Jahrzehnte vom "Goldenen Zeitalter des Staates". Der Sonderforschungsbereich (Sfb) untersucht, wie sich Staatlichkeit seit dieser Zeit gewandelt hat (1. Phase), analysiert die Ursachen des Wandels (2. Phase) und fragt nach dessen Auswirkungen (3. Phase).

In der ersten Phase (2003-2006) des Sfb wurde der Wandel von Staatlichkeit mit Hilfe einer einheitlichen Konzeption beschrieben. In dieser Konzeption wurden vier Dimensionen der Staatlichkeit (Rechts-, Legitimations-, Wohlfahrts- und Ressourcendimension) bezogen auf vier normative Güter – Rechtsstaatlichkeit, demokratische Legitimität, Wohlfahrt und Sicherheit – unterschieden, in denen jeweils Wandlungsprozesse auf zwei Achsen betrachtet wurden, nämlich der räumlichen (national-international) und der modalen (staatlich-privat). Untersuchungsgegenstand waren daher Prozesse der Internationalisierung, der Privatisierung und der Transnationalisierung (als Doppelbewegung auf beiden Achsen).

Auf dieser konzeptionellen Grundlage konnten die Ergebnisse aus den Teilprojekten zusammengeführt werden: Als Gesamtbild ergab sich eine Zerfaserung von Staatlichkeit (Zürn & Leibfried 2005; Leibfried & Zürn 2006a; Hurrelmann u.a. 2007, 2008). Statt einer allgemeinen Verlagerung von Aufgaben und Kompetenzen auf die internationale Ebene bzw. einem allgemeinen Privatisierungstrend ergaben die Arbeiten aus dem Sfb ein weit komplizierteres Bild. Ausmaß und Richtung des Staatswandels unterschieden sich sehr stark nach Dimensionen, Politikfeldern und Ländern, zum Teil war auch die Beibehaltung des Status quo zu beobachten. Und statt einer reinen Verlagerung vom Staat auf neue Aufgaben- und Herrschaftsträger kommt es in der "postnationalen Konstellation" (Habermas 1998) dazu, dass sich neue internationale und private Institutionen an den Staat anlagern, die sich mit diesem die Verantwortung für die Erbringung von Aufgaben und normativen Gütern teilen. Nicht mehr die staatlichen Instanzen allein, sondern zunehmend auch gesellschaftliche und internationale Institutionen treten als Rechtsgaranten, Legitimationsträger, Wohlfahrtsproduzenten und Gewaltkontrolleure auf. In der Folge löst sich die sehr ausgeprägte Bündelung von Verantwortung beim Staat, die dessen Goldenes Zeitalter charakterisierte, auf.
Trotzdem verfügt der Staat nach wie vor über erhebliche Entscheidungskompetenzen und Organisationsmacht. Zudem wird ihm noch immer die Letztverantwortung für die Bereitstellung normativer Güter zugeschrieben: Kommt es zu Krisensituationen – droht also das internationale Finanzsystem zusammenzubrechen, beginnt der Euro schwach zu werden oder treten wegen des globalen Klimawandels die Flüsse über die Ufer –, dann richten sich die Hilfsappelle und Schuldzuweisungen zuerst an den Staat. Von ihm wird erwartet, dass er einspringt und Abhilfe schafft – unabhängig davon, ob er an diesen Mängeln und Krisensituationen nun ursächlich beteiligt war oder nicht. Die Zerfaserung von Staatlichkeit bedeutet also nicht das Ende des Staates (gegen derartige Diagnosen: Evans 1997; Weiss 1998; Sørensen 2004). Sie bedeutet aber, dass der Staat weniger als Herrschaftsmonopolist denn als Herrschaftsmanager zu charakterisieren ist (Genschel & Zangl 2008).

Die in der ersten Phase beschriebene Zerfaserung von Staatlichkeit galt es in der zweiten Phase (2007-2010) zu erklären. Zu diesem Zweck wurde das einheitliche Beschreibungskonzept durch eine Sfb-weite Erklärungsheuristik ergänzt. Diese beruht auf der Unterscheidung zwischen Antriebskräften und Weichenstellern des Wandels von Staatlichkeit. Unter Antriebskräften verstehen wir dabei all jene säkularen Trends, die bestehende Strukturen von Staatlichkeit herausfordern und dadurch zur Ursache des Wandels werden können. Hier sind insbesondere wirtschaftliche Globalisierung und technischer Fortschritt, demographische Entwicklungen und Wertewandel zu nennen, zunehmend auch die Verknappung natürlicher Ressourcen. Als Weichensteller bezeichnen wir demgegenüber all jene Faktoren, die dem Wandel sein eigentümliches Gepräge geben, ihn in bestimmte Richtungen lenken, ihn beschleunigen, bremsen oder sogar gänzlich verhindern.

Das gemeinsame Erklärungsschema erlaubt es, die in den Einzelprojekten entwickelten Teilerklärungen für spezifische Aspekte des Wandels von Staatlichkeit auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin auszuwerten und sie in eine Gesamterklärung der Zerfaserung von Staatlichkeit zu integrieren. Die detaillierten Untersuchungen zum Zusammenwirken von Antriebskräften und Weichenstellern zeigen, dass der Staatswandel nicht als bloße Reaktion auf externe Schocks erklärt werden kann, aber auch nicht als rein endogener institutioneller Wandel (vgl. Mahoney & Thelen 2010). Vielmehr wirken die Staaten selbst an ihrer Transformation mit, indem sie jene Kräfte (wie wirtschaftliche Globalisierung) befördern, die ihre Staatlichkeit in Frage stellen – um dann mit der ihnen weiterhin verbliebenen Macht zu versuchen, die nun einer eigenen Dynamik folgenden Herausforderungen zu bewältigen, ihr Tempo abzubremsen, ihre Folgen abzumildern und eigene Handlungsfähigkeit zu bewahren.

Die Zerfaserung von Staatlichkeit ist nicht allein exogenen Kräften geschuldet, die den Staat quasi "von außen" zum Wandel zwingen. In der Tat wird der Staat durch wirtschaftliche, demographische, technische und soziale Entwicklungen herausgefordert und vielfach zur Veränderung gedrängt. Aber der Staatswandel wird auch von endogenen Faktoren, also staatlichem Wirken, mitbestimmt. Der Wandel des Staates ist mithin eine Kombination aus Selbsttransformation und freigesetzten Eigendynamiken. Je nach Dimension, Politikfeld und Land ist die Wirksamkeit der Weichensteller und darunter des staatlichen Handelns höchst unterschiedlich ausgeprägt, was zum Gesamtbild zerfaserter Staatlichkeit führt.

In der dritten Phase (2011-2014) sollen die Wirkungen der Zerfaserung von Staatlichkeit empirisch untersucht und normativ bewertet werden. Dabei unterscheiden wir zwischen zwei Typen von Folgen der neuen Konstellation: den Outcomes und den Reaktionen.

Bei den Outcomes wird untersucht, ob und wie sich die Versorgung mit normativen Gütern, deren erfolgreiche Erbringung konstitutiv für den DRIS war, in der neuen Konstellation geändert hat. Dabei werden Effekte auf das Niveau, die Verteilung und die Struktur der Güter unterschieden. Überprüft werden soll die These, dass sich im Gefolge der neuen Konstellation von Staatlichkeit – durch Effektivitäts- und Effizienzgewinne qua Privatisierung und Internationalisierung – zwar das Niveau an Wohlfahrt und Sicherheit erhöht, aber bei Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Legitimität Defizite entstehen, also die "Problemdruckthese".

Bei der Untersuchung der Reaktionen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Akteure auf die neue Konstellation schließen wir an Albert Hirschmans (1970) bekannte Unterscheidung von Abwanderung, Widerspruch und Loyalität, von "exit, voice and loyalty", an. Hier gilt die Aufmerksamkeit der Frage, ob die neuen Träger der Aufgaben- und Herrschaftsverantwortung zunehmend mit politischen Ansprüchen konfrontiert werden, die bislang ausschließlich an den Nationalstaat gestellt wurden – es geht also um die "Anspruchstransferthese".

Die Untersuchung von Outcomes und Reaktionen mündet in die Fragestellung, ob sich die neue Konstellation als ähnlich stabil wie der DRIS erweist oder ob sie ein instabiles Übergangsstadium darstellt. Gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die neue Konstellation ohne grundlegenden Wandel über einen längeren Zeitraum fortbestehen kann? Zu prüfen ist hier die Überlegung, dass Brüche und Kollisionen zwischen Regelungsebenen, Politikfeldern und Herrschaftsakteuren in der Situation der Zerfaserung zu neuen Instabilitäten führen, also die "Kollisionsthese".

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Hinweis
Die im Text zitierte Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis 



      






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